Deeskalationsphase und Festvision
„
Hölle, Hölle, Skandal um Rosy“, peitscht es
aus dem Zelt mit dem blauen Himmel. Der Regen spielt Pingpong
mit
seinem Geprassel. Entzückt, entrückt, Hauptsache
engagiert betrunken. Militante Veganer mit Schweinchen-Masken
rupfen das Grillfleisch zu Konfetti und entfachen mit brennenden
Nitroglycerin beißende Rauchschwaden.
Brei. Ein Bierseliger brüllt „holy Fuck“ als
hätten sich just Stacheldraht in die Venen gezurrt
und er zieht seine Hose über das Gesäß,
seinen Schlüpfer verstreute er beim Bierbanktänzchen
mit der Florentinerin, die nachlässige Kontrolle seiner
Körperfunktionen ist für den mit ausgezeichneten
Geruchssinn Ausgestatteten durchaus ein Desaster.
Niemand regt
sich auf, dass die Fleischfäden der Ochsenbraten
und Würste jedem aus den Mundwinkeln hängen.
Das 220. Jahr des Oktoberfests geschieht in diesem
Moment. Die Anzapfmannschaft defiliert mit der bedächtigen
Ausdauer eines Geschwürs auf die Bühne, von
wuchtigen Technoklängen begleitet, die von mindestens
zwei Meter großen Frauen, die in einen transparenten
Catsuit gepresst sind auf Waldhörnern so groß wie
Geschirrspülmaschinen
untermalt werden. Enziane
und Röslein sind als geschmackvolles Kunstensemble an
den Busen geklemmt. Die Aggressionslust, weil das Anzapfen
wieder solange dauert, wird von der Voraussicht auf künftige Glückseligkeiten geschwächt.
Zwei kulturpessimistische Trinker drohen sich bei der
ersten Maß Prügel an, da sich der eine vom anderen
gestört fühlt, der eine zu unverschämt
schleppend und der andere den goldenen Lavabierfluss
zu maßlos in sich reinschüttet. Schweißnasses
Ambiente, Zombieblicke. Die Taylorisierung des Trinkens nicht
hinterfragen, getrieben sein, alles muss schnell weg, den
Codex des Trinktempo, die Körperberührungen
bei kurzen Einverständnis des kurzen Gelalles
dürfen nicht
zu intensiv und erst recht nicht zu kantig sein. Ferner
wird ein bewegliches Becken, ein gesunder Hüftapparat
und die hervorragende Streckung der Oberschenkelmuskulatur
erwartet, dass man spontan auf die Bierbank und runter
behände
hoppst als verließe man eine heiße Herdplatte.
Eine orthostatische
Dysregulation weist einen eh gleich als Versager, Lusche
auf. Das passiert denen die dreisterweise auf der Bierbank einschlafen,
vor sich hin dämmern und plötzlich aus ihrer halbhorizontalen
Lage in die Aufrechte gescheucht werden. Mit schwachen
Blutdruck wird es einem schwindlig, das Herz brandet wie
im Wildwasserkanal
und es folgt oft eine Bewusstseinsstörung, dass man nicht
mehr weiß wo man ist und plötzlich am Zeh nuckelt.
Im Paradies ist man jedenfalls nicht, das wird einem
schnell klar, wenn man dann noch weiter gepiesackt
wird. Kein Wunder, tritt diese orthostatische Fehlfunktion
bei pubertierenden Mädchen auf und die Bierpro-fessionellen
sparen mit ihrer Schadenfreude über das Mädchenverhalten
bei keiner Gelegenheit.
Gerüchte werden gestreut, dass
der Angefeindete, der
am unpassendsten Ort nach einer süßen Seele
sucht, sich Zutritt in die Box erschwindelte. Die sei
eigentlich nur für die „Trinkspecht-Champions“ gedacht.
Wer hier sitze sei Gewinner des nationalen Champ-Titels.
Eine Tradition, die sich in den 50er Jahren herausbildete.
Es folgten Freundschaften, unverbindliche Ehen und reduzierte
Treueansprüche, Partnertauschmöglichkeiten mit
Erforschen der
internationalen Fummel-Terroirs. In den Statuten sei sogar verankert,
dass diese zelebrierte wahlweise Libidoerfüllung auch
die Aussichten
auf Verbesserung des Trinkgebarens stellt.
In dem zwanglosen
Zelt mit der Aussicht auf sexuelle Befreiung, Pheromongirlanden,
Rauchen ohne wachsame denunzierende Blickverfolgung,
alles Vorzüge der Box, die man nur mit den Ausgewählten
teilen wollte. Einschleicher werden taktisch klug wie
am Radar beobachtet. Diese genießen nämlich meist
die Vorzüge der toleranten Box und möchten
nebenbei noch eine Champ-Frau abgreifen.
Es versteht sich
von selbst, dass man hier nicht drei Stunden an einer
Maß Bier saugt und sich gedanklich schon
die Beine, das Steißbeinknöchelchen von
einer Frau massieren lässt.
Kulturpessimisten, die hier als Propheten eindringen und
die Güte des Bieres gemein hinterfragen, eher
zur Depression und epistemologischen Späßchen
einladen, die einem im Zweifel rudern lassen, sind mit ihrer
Triebunterdrückung
des strudelnden Rausches unfähig und klammern
sich nur am Skelett der unerfüllten Vorfreude
zu einer Kontaktaufnahme fest. Wer hier zu mosern und
zu mäkeln
hat, dem sei der Zauber „des seitlich daran Vorbeigehens“ des
großartigen Gesellschaftserkunders Max Goldt geraten.
Der
Wirt sieht mit seinen zurückgegelten Haaren wie mit
Soße übergossen aus, er lächelt dem
eskapadenhugrigen Zelthimmel herausfordernd zu. Er
sitzt auf dem prallen Vollmond am Dachspitz und süffelt
italienischen Likör
mit Tiramisu-Unmengen, gleich wird ihm schlecht.
Am Mond hängen
an Trapezschnüren fünf goldig anzusehende
Schülerinnen in einer Dirndlgewandvorstellung,
die eigentlich mehr ein Nichts ist und auch bei größter
Imaginationskraft nicht mehr als das Stöffchen von
Karteikärtchengröße bemisst. Für sie
entwarf man extra eine Schwung-Choreographie, bei einem
Trommelwirbel der Haus-Band müssen sie ein
krosses Hühnerbeinchen
im Mund lüstern und verdorben kauen,
unterstützt mit Geschwinge an Schnüren. Es ist, als
stehen ihnen Arthur Schnitzler und Jeff Koons Pate, damit
die kleinen Schönheiten möglichst früh und
problemlos ihre Unschuld verlieren. Von den Eltern gedrängt,
sich an die Seile zu hängen, ja keine Schwindelgefühle
und kein Erbrechen zuzulassen, denn sonst verliert man
den Job, der Papa will auch unbedingt wieder sein Premiere-Abo
weiterlaufen lassen und die FC-Bayern-Mitgiedschaft stehe
auch noch aus. Da wäre doch nichts dabei ein bisserl
am Mond zu hängen und den Mannsbildern schöne Augen zu
machen. Dran denken müsse das Vollmondtöchterchen aber,
dass die Haftpflichtversicherung eventuelle Reinigungsschäden
nicht übernimmt.
So manche im Mond Schwingende möchte sich am liebsten
transzendieren und
mit einem Geflecht von krimineller Ausdrucksstärke,
einem Gewaltakt,
allen im Suff schwelgenden mit einem Sprung die Zähne ausschlagen.
Eine gefährliche Parade.
Aus dem Boden lässt der
Wirt auf Knopfdruck Kaktuspflanzen und knorrige Schlinggewächse
mit avatarähnlichen
Fratzen hochfahren. Ein aggressives verhaltensgestörtes
Schaf, das hinten an der Fischsemmelausgabe steht,
bewirft mit Gräten, den Stacheln der gemeinen Flachkopffische
die Besucher, die zu wenig trinksam sind. Am Nordeingang
des Zeltes steht ein Elektroauto-Sponsor mit Ladestation.
Daneben
ist ein von Alessi entworfenes Stahlbecken mit einer
Frischluftaufladestation, damit man eruptiv aufströmendes
Rauschgefühl wieder
mit einer Neuflut an optimierenden Bakterien abweisen
kann. Man muss ja wieder an den Tisch, außerdem ist
man weit ins Hintertreffen mit dem Maß-Konsum geraten.
Eine Bier- und Festexistenz zu führen bedeutet
sich wiederholt anzunähern, keine Ausfälle
zu dulden und das nächstfolgende Elend nachdem Festglanze vorausmemorieren.
Man
käme ja nur mit einer gewissen Qualifikation in dieses
Zelt. Ausgelöst durch das Rauchverbot musste sich
der Wirt eine neue Lösung ausdenken, dass er das
Zelt wieder füllt und den Stellenwert seines Zelts
erhöhen,
quasi an die Spitze stellen.
Da das Rauchen nur noch im Sterbe-Hospiz,
als Airbus-Pilot wenn man kurz vor einem ungewollten
Absturz im Pazifik steht, im U-Boot oder in der Psychiatrie
erlaubt ist, musste umdisponiert werden. Die herkömmlichen
Bedienungen mit ihren ansehnlichen Trachten- gewändern wurden
ersetzt. Um den Festbetrieb legal aufrechtzuerhalten musste eine
klinische Situation geschaffen werden. Jeder Besucher
muss nun bei einem Mindestaufenthalt von zwei Stunden zehn
Bier konsumieren. Die Maßkrüge
werden von androidartigen Wesen auf den Tisch gestellt.
Assistiert wird ihnen von ehemaligen Wiesn-besuchern,
die schon die historisch begründete Reptilienhaut am Körper
haben und mit einem Wasserauffangbehälter sofort die nichtalkoholischen
Getränke der zartbesaiteten Einschleicher einsammeln,
da diese die filigrane Struktur des „Trinkens im
unveränderbaren Rhythmus“ gefährden. Um die
Sache noch glaubhafter und wirkungsvoller zu handhaben,
geht alle Stunde wahlweise eine verstreute Gruppe mit
Hirngespinsten und als in Gitterstruktur eingeklemmte
Leberkäsesemmeln
vorbei, Existenzen die vorher – angeblich – eine
Sitzgarnitur aus der Geisterbahn waren und heute, man munkelt,
mit Phillip Roth auf der Wiesn nach jungen, ehebrecherisch veranlagten
Mädchen schauen. An einer goldenen Kette einer fundamentalistischen
Dirndldesignerin hängt ein wimmernder Mann, Typ Daddy
der noch nicht mal mit seinem auf Aggro getrimmten Vorschulbübchen
zurecht kommt und sich mit der Alten um das Sorgerecht
streitet. Ein Häufchen Elend im glanzlosen Polyester-
Anzug. Der Ärmste drängt sich neugierig wie eine
dumme Katze in das Zelt, überschätzt seine
Trinkbereitschaft. Vor allem übersieht er, dass
er nur noch ein Leberstück
als ein zusammenhängendes Ganzes besitzt und muss
daraufhin bereits nach zwanzig Minuten die Jagd nach Dursterfüllung
aufgeben. Jetzt wird mit Kette bestraft.
Eine Idylle im Zelt,
die seinesgleichen sucht. Eine japanische Familie mit
emaillierten Hüten auf den Häuptern,
zweidimensionalen Augen groß wie Superlarge-Sushirollen
die als Gesamtkompanie-Kunstwerk einer Parallelwelt
mit einem Trinkkapital aufwarten, das nicht mehr mit den gewöhnlichen
europäischen Ansprüchen, Erfordernissen zu messen
ist. Sie sitzen mit einer souveränen Bestimmtheit ausströmenden Körpersprache
da, als hätten sie nie was anderes gemacht. Die Einheimischen
sind erstaunt, bewundern, es werden Kameras gezückt, furioser
Applaus. Bei jeder neuen Maß klatscht man johlend in
die Hände,
man raucht, feiert diese Frohbotschafter mit einer
fast exorzistisch
anmutenden Trinkergilde entspannt ohne nervöse Durchflutungen.
Dazwischen
kommen die Johanniter-Bereitschaftsmediziner und verarzten die
ersten Herzgeschädigten, die Schlaganfallbedrohten,
da diese
ja mit einer neuen Existenz an noch besseren, formidabel ausgebildeteren
Trinkern zu kämpfen haben. „Die sind sicher aus China.
Die sind nicht aus Japan.“ - „Warum“, eine
kleine halb verdrossene, angespannte, verbissene Zechgelage-Konversation entspinnt
sich. - „Die Japaner wären viel schmaler, zerbrechlicher,
so drahtig und jede Frau sieht aus wie eine Porzellanprinzessin,
die vertragen auch nicht soviel, weil sie immer dazwischen
kichern müssen.“ Ratlosigkeit
des Gegenübers. „Was denn dann?“ - „Das
sind Chinesen. Die sind viel rundlicher, da sieht ja
jeder schon wie ein Fass aus. Die haben unsere Qualitäten
kopiert, das können sie ja. Und, kichern tun sie
auch nicht. Schauen Sie hin. Zentimetergenau wie bei
der Parade zum 60. Geburtstag der Volksrepublik China setzen
sie ihre
Lippenschritte zur Maß, monatelang geübte Präzision,
als präsentieren sie sich gleich auf der Pekinger „Straße
des ewigen
Friedens“.“ Der Gesprächsteilnehmer beeindruckt:
- „Ja, da wird das Bier sogar zum Kriegsgerät
zur politischen Führung. Da gibt’s keine
Leichtigkeit, wie sie in den fließenden japanischen Bewegungen
schwingt.“ Man beschließt mit den Japan-Chinesen anzustoßen,
man weiß ja nie, was es bringt. Die Chinesen/Japaner/
Asiaten erheben sich nach exakten Zeitmuster wie ein aufgeschnapptes Klappmesser
von ihren Plätzen, jagen einen kehligen irgendwo in
der Herzkammer
ausgebildeten Schrei in das Zelt, es hört sich wie die
Generalmobilmachung für einen fulminanten Amoklauf in
chinesischen Ministerien
an. Obsessiv klopfen die asiatischen „Alles oder nichts“-
Trinker dann noch mit Bierschlegeln aufeinander ein.
Ein Beauftragter
fotografiert und schickt das Dokument der Münchner Freiheitsvorstellungen
in das beheimatete Land.
Während es doch einigen langjährigen
historisch-romantisierenden Oktoberfestvertrauten
zu wild wird, die Johanniter kurz Infusionen mit Elektrolyten
anlegen müssen, da ein Einheimischer über Schwäche
klagte und womöglich aus dem gefräßigen
Netzwerk der Trinkdiktatur fliegen kann. Der Kapellmeister
der Insolvenz-Band „Brüste und Schenkel“ spielt
zur Aufmunterung des Operierten „Freude schöner
Götterfunken“ und die Mädchen im Vollmond
lassen nun ihr aufgeplustertes Dekolletee mit italienischen
Likören des Wirtes begießen. Eine Maßnahme
die noch mehr Lüsternheit, faszinierende, sündige
Wolllust in das Zelt fächelt. Ein amerikanischer
Zigarettenproduzent lässt am letzten Wiesntag
Diplomzeugnisse unter Tusch, Fanfaren und den Vollmond-Cheerleaderinnen
an die engagiertesten Genussfreudigen verteilen.
Der
Bleiregen schlägt das Zeltdach mürbe und grünlilane
Schatten durchziehen die Pfützen vor dem Wiesn-Geldautomaten.
Dort verknotet sich ein ungezähmtes Paar, das
soeben torkelnd das Pracht-Stabil-Alk- Zelt verließ.
Er lässt
sich offenen Augen die eisigen Dornen des Regens auf
die Pupillen schießen, während seine Begleiterin
mit schwarzer
Bob-Frisur, einem kläffenden Hündchen in ihrem
Täschchen sich
an ihm zu schaffen macht. Mit ihren Schaftstiefeln drückt
sie keine Widerrede duldend auf seine Oberschenkel.
Später
wird sie ihn noch beschimpfen, was das für eine
Zumutung sei, dass er so phlegmatisch wie totes Tier
am Boden liegt, er solle sich gefälligst bewegen und ihr
was bieten. Neben dem wenig demokratisch operierenden Liebespaar stürzt
eine Amsel, schon viel zu alt, auf den Boden. Der Mann schließt
die Augen und versucht einen Rosenkranz zu beten, ungeübt, es
gelingt nicht, so gerne hätte er sich nun verwünscht
und nähme lieber des gestürzten Vogels Stelle ein.
In diesem Moment am jähen Liebesminengürtel
in der vermatschten Stadt. Oktoberfest wieder? Sicher – nächstes
Jahr sehen wir uns wieder.
Miss
Harmlos |