Ohne
Trinkbeschränkung
Die
Frage der eigenen Herkunft stellt sich in
aller Deutlichkeit
normalerweise in
der Fremde.
Als Bewohner von Bayern und noch spezieller
von München wird man – angesprochen
auf den eigenen Wohnort – oft als erstes
mit dem Stichwort „Oktoberfest“ konfrontiert.
Hier fokussiert sich die medial vermittelte
Sicht von Bayern in einer Doppelspitze mit
Neuschwanstein, dem Schloss, das schon zum
Zeitpunkt seiner Erbauung nicht echt war.
Das Oktoberfest ist dabei – so wie das
Gemäuer – eine äußerst
erfolgreiche Veranstaltung. Regelmäßig
drängen sich über 6 Millionen Besucher
auf 16 Tagen auf dem Festplatz und vernichten
ebenso viele Liter Wiesnbier. Diesen Publikumszuspruch
kann das Münchner Herbstfest kaum seinem äußeren
Leistungsspektrum verdanken: die Preise sind
horrend, die Bierkrüge nicht immer voll,
die Ergatterung eines beengten Sitzplatzes eine
Herausforderung an sich, die Luft schlecht und
die Musik aufdringlich und basiert auf dem kleinsten
gemeinsamen Nenner.
Warum
also ist diese öffentliche
Inszenierung von exzessivem Drogenkonsum bei
Münchnern
und Touristen gleichermaßen beliebt?
Auf welchen Mechanismen basiert diese überfüllte
und für den Besucher außerordentlich
teure Veranstaltung? Was macht dieses angeblich
bayerischte aller Volksfeste so attraktiv?
Es muss das sein, was heutzutage gerne mit
dem Begriff
Erlebniswelten belegt wird, denn ein Phänomen
fällt im Zusammenhang mit einem Wiesnbesuch
sofort ins Auge – zumindest wenn man
weitgehend nüchtern geblieben ist. Innerhalb
der Bierzelte findet ein Prozess inszenierter
Enthemmung statt,
in dessen Verlauf auch einige Verhaltenskonventionen
relativiert oder gebrochen werden, die im 'normalen’ Leben
den Verlauf eines Abends bestimmen. Typisch
und schnell zu erkennen: Tanz auf den Bierbänken,
Mitgrölen der Bierzeltlieder. Versteckter:
die kleinen und größeren sexuellen Übergriffigkeiten,
die solche Abende gerne mal begleiten, sowohl
verbal, als auch körperlich. Kater am
nächsten
Tag hin oder her, Spaß macht’s.
Auf der Suche nach der Attraktivität dieser
Bierzeltabende hilft das Modell der ‚repressiven
Entsublimierung’ weiter. Das Konstrukt
stammt ursprünglich von Herbert Marcuse,
der damit eine Analysekategorie von Freud umgekehrt
hat. In der Kurzfassung geht es um Folgendes:
während im Prozess der sog. 'Sublimation’ sexuelle
Energien in Kulturleistungen umgesetzt werden,
geht es bei der 'Entsublimation’ um
das genaue Gegenteil: die massive Freisetzung
von Triebenergie auf ihrem ureigensten Feld.
Dieses Phänomen trifft auf eine Veranstaltung
wie die Wiesn ohne Zweifel in weiten Teilen
zu. Aber warum 'repressiv’? Marcuse
geht davon aus, dass diese Freisetzung von
Triebenergie
gesellschaftlich in Masseninszenierungen der
Triebabfuhr gesteuert wird um danach das genaue
Gegenteil leichter aufrecht zu erhalten: Triebkontrolle,
Rationalisierung und Konformität. Insofern
repressiv: die Sau raus lassen, um nachher
wieder besser zu funktionieren.
Warum
funktioniert das gerade auf der Wiesn
und nicht in der Kneipe von nebenan? Der
Unterschied ist sicherlich ein gradueller,
aber nichtsdestotrotz
ein entscheidender: das Bierzelt im September
bietet gerade unter dem Aspekt der Entsublimation
ein paar nahezu unschlagbare Eigenschaften.
Die
freigegebenen, enttabuisierten Räume
der Triebabfuhr sind größer als
in jeder Kneipensituation (von großstädtischen
Tex-Mex-Läden und einer bestimmten Kategorie
von Massendiscos mal abgesehen – die
haben viel von der Wiesn gelernt). Nur hier
gibt es
erlaubte und gewollte Verhaltensschemata
dieser Entehemmungsstufe. Darüber hinaus
lässt
sich nur hier die Triebabfuhr in einem so
kollektiven Raum erleben. Das größte
Zelt der Wiesn fasst über 6.000 Menschen,
die – zumindest
auf den ersten Blick – Akzeptanzfläche
und Mitsäufer sind. Es ist der Raum,
in dem eine echte kollektive Entsublimierung
statt
finden kann. Er wird dafür zur Verfügung
gestellt und ist – abgesehen von Akten
körperlicher Gewalt – frei von
Sanktionen, die andernorts durchaus zu befürchten
wären.
Wer sich in der Kneipe nebenan so aufführt
wie im Schottenhammel um zehn Uhr Abends
fliegt raus, wenn er Pech hat mit Hausverbot.
Und
noch schlimmer: ein solcher Auftritt wird
im sozialen
Rahmen 'Bar’ von Anderen als
nichtakzeptabel und peinlich eingestuft,
kurz es ist sozial
abweichendes Verhalten, für das man
sich im Nachhinein zu rechtfertigen hat.
Für
einen exzessiven Wiesnabend muss sich niemand
entschuldigen, er
stellt genau den entgrenzten Raum für
eine Triebabfuhr dar, die einem die Bearbeitung
der
Versicherungsanträge am Montag wieder
erleichtert und das Nachdenken über
Sinn und Unsinn von normierten Arbeitswelten
behindert.
Insofern
musste auch der Plan der Punkbewegung, Chaostage
auf der Wiesn zu veranstalten, schon konzeptionell
scheitern. Was die Punks nicht begriffen
hatten: das bestehende Chaos ab der dritten
Maß ist
elementarer Bestandteil der bestehenden Ordnung,
der räumlich und zeitlich umgrenzte
Kontrollverlust gerade ein Mittel die Selbst-
und Fremdkontrolle
außerhalb des Festplatzes um so besser
durchsetzen zu können. In dieser Hinsicht
unterscheidet sich das Modell 'Volksfest’ elementar
vom Modell 'Chaostage’, das ja
gerade darauf abzielte die öffentliche
Alltagsräume
in ihrer kontrollierten Selbstverständlichkeit
zu unterwandern.
Dem
Ereignis Oktoberfest ist es dabei mehr als
anderen Veranstaltungen
gelungen das
Etikett der Authentizität aufrechtzuerhalten.
Tradition wird hier als Teil der Marke „Wiesn“ großgeschrieben.
Die zunehmende Anzahl der Dirndl und Lederhosen
stellt damit unwillentlich in seiner stylish
transformierten „Tradition“ die
durchaus vom Tourismusamt willkommene Kulisse
einer „urigen“ Wiesn
für die devisenkräftigen Touristen
dar, die ein noch perfekteres Event der
Marke „bayerische
Gemütlichkeit“ bekommen. Gerade
den Bayern ist es hier gelungen diese Momente
der
Entgrenzung als „uriges“ Event
unter dem Schlachtruf »Heil prosit
der Gemütlichkeit« zu
inszenieren und damit den touristischen
immatierellen Mehrwert zu schaffen – ‘Bayerisch’ sein
als immaterielle Produktion von touristischem
Mehrwert einerseits und die Selbstversicherung
im medialen bzw. berühmten Event andererseits.
Damit ist dieses ‘urbayerische Fest’ zutiefst
janusköpfig: stabilisierend nach Innen
und Wirtschaftszweig nach Außen.
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