Oktoberfest
von Matthias Hofmann
Ohne Trinkbeschränkung
Die Frage der eigenen Herkunft stellt sich in aller Deutlichkeit
normalerweise in der Fremde. Als Bewohner von Bayern und noch
spezieller von München wird man – angesprochen auf
den eigenen Wohnort – oft als erstes mit dem Stichwort „Oktoberfest“ konfrontiert.
Hier fokussiert sich die medial vermittelte Sicht von Bayern
in einer Doppelspitze mit Neuschwanstein, dem Schloss, das schon
zum Zeitpunkt seiner Erbauung nicht echt war.
Das Oktoberfest ist dabei – so wie das Gemäuer – eine äußerst
erfolgreiche Veranstaltung. Regelmäßig drängen
sich über 6 Millionen Besucher auf 16 Tagen auf dem Festplatz
und vernichten ebenso viele Liter Wiesnbier. Diesen Publikumszuspruch
kann das Münchner Herbstfest kaum seinem äußeren
Leistungsspektrum verdanken: die Preise sind horrend, die Bierkrüge
nicht immer voll, die Ergatterung eines beengten Sitzplatzes
eine Herausforderung an sich, die Luft schlecht und die Musik
aufdringlich und basiert auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Warum
also ist diese öffentliche Inszenierung von exzessivem
Drogenkonsum bei Münchnern und Touristen gleichermaßen
beliebt? Auf welchen Mechanismen basiert diese überfüllte
und für den Besucher außerordentlich teure Veranstaltung?
Was macht dieses angeblich bayerischte aller Volksfeste so attraktiv?
Es muss das sein, was heutzutage gerne mit dem Begriff Erlebniswelten
belegt wird, denn ein Phänomen fällt im Zusammenhang
mit einem Wiesnbesuch sofort ins Auge – zumindest wenn
man weitgehend nüchtern geblieben ist. Innerhalb der Bierzelte
findet ein Prozess inszenierter Enthemmung statt, in dessen Verlauf
auch einige Verhaltenskonventionen relativiert oder gebrochen
werden, die im 'normalen’ Leben den Verlauf eines Abends
bestimmen. Typisch und schnell zu erkennen: Tanz auf den Bierbänken,
Mitgrölen der Bierzeltlieder. Versteckter: die kleinen und
größeren sexuellen Übergriffigkeiten, die solche
Abende gerne mal begleiten, sowohl verbal, als auch körperlich.
Kater am nächsten Tag hin oder her, Spaß macht’s.
Auf der Suche nach der Attraktivität dieser Bierzeltabende
hilft das Modell der ‚repressiven Entsublimierung’ weiter.
Das Konstrukt stammt ursprünglich von Herbert Marcuse, der
damit eine Analysekategorie von Freud umgekehrt hat. In der Kurzfassung
geht es um Folgendes: während im Prozess der sog. 'Sublimation’ sexuelle
Energien in Kulturleistungen umgesetzt werden, geht es bei der
'Entsublimation’ um das genaue Gegenteil: die massive Freisetzung
von Triebenergie auf ihrem ureigensten Feld. Dieses Phänomen
trifft auf eine Veranstaltung wie die Wiesn ohne Zweifel in weiten
Teilen zu. Aber warum 'repressiv’? Marcuse geht davon aus,
dass diese Freisetzung von Triebenergie gesellschaftlich in Masseninszenierungen
der Triebabfuhr gesteuert wird um danach das genaue Gegenteil
leichter aufrecht zu erhalten: Triebkontrolle, Rationalisierung
und Konformität. Insofern repressiv: die Sau raus lassen,
um nachher wieder besser zu funktionieren.
Warum funktioniert
das gerade auf der Wiesn und nicht in der Kneipe von nebenan?
Der Unterschied ist sicherlich ein gradueller,
aber nichtsdestotrotz ein entscheidender: das Bierzelt im September
bietet gerade unter dem Aspekt der Entsublimation ein paar nahezu
unschlagbare Eigenschaften. Die freigegebenen, enttabuisierten
Räume der Triebabfuhr sind größer als in jeder
Kneipensituation (von großstädtischen Tex-Mex-Läden
und einer bestimmten Kategorie von Massendiscos mal abgesehen – die
haben viel von der Wiesn gelernt). Nur hier gibt es erlaubte
und gewollte Verhaltensschemata dieser Entehemmungsstufe. Darüber
hinaus lässt sich nur hier die Triebabfuhr in einem so kollektiven
Raum erleben. Das größte Zelt der Wiesn fasst über
6.000 Menschen, die – zumindest auf den ersten Blick – Akzeptanzfläche
und Mitsäufer sind. Es ist der Raum, in dem eine echte kollektive
Entsublimierung statt finden kann. Er wird dafür zur Verfügung
gestellt und ist – abgesehen von Akten körperlicher
Gewalt – frei von Sanktionen, die andernorts durchaus zu
befürchten wären. Wer sich in der Kneipe nebenan so
aufführt wie im Schottenhammel um zehn Uhr Abends fliegt
raus, wenn er Pech hat mit Hausverbot. Und noch schlimmer: ein
solcher Auftritt wird im sozialen Rahmen 'Bar’ von Anderen
als nichtakzeptabel und peinlich eingestuft, kurz es ist sozial
abweichendes Verhalten, für das man sich im Nachhinein zu
rechtfertigen hat. Für einen exzessiven Wiesnabend muss
sich niemand entschuldigen, er stellt genau den entgrenzten Raum
für eine Triebabfuhr dar, die einem die Bearbeitung der
Versicherungsanträge am Montag wieder erleichtert und das
Nachdenken über Sinn und Unsinn von normierten Arbeitswelten
behindert. Insofern musste auch der Plan der Punkbewegung, Chaostage
auf der Wiesn zu veranstalten, schon konzeptionell scheitern.
Was die Punks nicht begriffen hatten: das bestehende Chaos ab
der dritten Maß ist elementarer Bestandteil der bestehenden
Ordnung, der räumlich und zeitlich umgrenzte Kontrollverlust
gerade ein Mittel die Selbst- und Fremdkontrolle außerhalb
des Festplatzes um so besser durchsetzen zu können. In dieser
Hinsicht unterscheidet sich das Modell 'Volksfest’ elementar
vom Modell 'Chaostage’, das ja gerade darauf abzielte die öffentliche
Alltagsräume in ihrer kontrollierten Selbstverständlichkeit
zu unterwandern.
Dem Ereignis Oktoberfest ist es dabei mehr als
anderen Veranstaltungen gelungen das Etikett der Authentizität
aufrechtzuerhalten. Tradition wird hier als Teil der Marke „Wiesn“ großgeschrieben.
Die zunehmende Anzahl der Dirndl und Lederhosen stellt damit
unwillentlich in seiner stylish transformierten „Tradition“ die
durchaus vom Tourismusamt willkommene Kulisse einer „urigen“ Wiesn
für die devisenkräftigen Touristen dar, die ein noch
perfekteres Event der Marke „bayerische Gemütlichkeit“ bekommen.
Gerade den Bayern ist es hier gelungen diese Momente der Entgrenzung
als „uriges“ Event unter dem Schlachtruf »Heil
prosit der Gemütlichkeit« zu inszenieren und damit
den touristischen immatierellen Mehrwert zu schaffen – ‘Bayerisch’ sein
als immaterielle Produktion von touristischem Mehrwert einerseits
und die Selbstversicherung im medialen bzw. berühmten Event
andererseits. Damit ist dieses ‘urbayerische Fest’ zutiefst
janusköpfig: stabilisierend nach Innen und Wirtschaftszweig
nach Außen. |