The Buntfarbene Rocksäume
Von Gottholm August Glatz
„Erinnerst
Du dich an die riesigen Räume voll mit Rauch und
die Leute selbst voll mit Bier?“
Marcel Duchamp über das Hofbräuhaus
Der Wind bewegt die Bahnhofsuhr, die langsam hin und herschaukelt.
Dann bewegt er die Zweige, den blauen Mantelsaum des Mannes,
die Haare der Frau, die roten Rockschöße der Frau, den Mantelsaum der Frau.
Ein Güterzug fährt an einer Baumgruppe vorbei. Er pfeift lustig. Ganz oben auf dem höchsten Ast, der die Baumkrone um ein Weniges überragt, sitzt eine Krähe. Ein Bub trippelt mit einem geschnürten Bündel an einen Wanderstock über eine morgentaubesprenkelte Wiese. Er wirbt so auf einem Plakat für eine Morgenmuntermachersendung im Privatradio. Eine leere Saftflasche, ein Zeitungsausriss mit einem halb gelösten Kreuzworträtsel und leere Flachmannflaschen liegen im Unkraut zwischen den Gleisen. Wartendenspuren. Gerade die Wartenden sind es, die Erzählstoffe fabrizieren. Am Bahndamm ein Schild „Betriebserde für Weichennutzung“. Was es alles gibt. Mein Zug fährt ein.
Der Zugführer spricht zu den Insassen. Er wünscht eine angenehme Reise. Und das mit mainfränkischer Färbung. Man denkt an Weinberge, aber man fährt sattdessen durch ein Industriegebiet. Dann rauscht das zebrastreifenhafte eines Birkenwäldchens am Fenster vorüber.
Kinder winken uns Reisenden von einem Schrebergarten aus zu.
Ich bin seltsam gerührt, fährt hier doch alle Viertelstunde ein Zug vorbei. Ob sie jede Viertelstunde winken? Bodennebel webt Schleier über Felder. Eine Brücke überspannt einen sich krümmenden Fluß. Von der Uferböschung her dampft es wie aus einem türkischen Dampfbad. Durch die regennasse Scheibe einen kurzen Blick auf die Donau erhaschen. Ein Radfahrer kopfunter gespiegelt im Fluss. Solarzellenfelder. Maisfelder, Rapsfelder. Solarzellenfelder.
Eine Pappelreihe in der Flußwasserspiegelung und kopfstehende, behände gehende Nordicwalker in karotten- und salatgurken-, metallicfarbiger und cadmiumgelber Sportkleidung. Leichter Wind kräuselt die Wasseroberfläche.
Zeitungsrascheln in der Sitzreihe hinter mir. Buchumblätter- und Kaffeebecherleertinkgeräusche. Das Zeitungsraschelgeräusch dominiert.
Der Zugbegleiter ist ein Mann mit einem höhensonnengebräuntem Gesicht mit vielen Querfalten und einer kränklichen Glatze. Er wirkt wie jemand, der in „Bitte verlassen Sie dieses Örtchen so wie Sie es gerne vorfinden möchten“ hinter das „so“ ein Komma setzt. Er fordert forsch meine Fahrkarte zur Ansicht. „Nach München wollen Sie? Oktoberfest?“ Ich bejahe.
Schallendes Gelächter. Weibliches Kikeriki aus dem Bistroabteil nebenan.
„Bringen Sie mir einmal die „knackige Salatpause“ und ein stilles Wasser, bitte!“ ruft Jemand.
Kommt man von Norden in die Stadt wirken die Föhnalpen wie eine Theaterkulisse aus Pappmachee. Der Olympiaturm ist weithin sichtbar, der Highlight-, und der O2-Tower; auch die Frauenkirche mit ihren zwei Türmen und welschen Hauben. Der linke Turm ist eingerüstet und von einer weißen Plane bedeckt. Er wirkt wie ein orthopädischer Stützstrumpf. Die Sonne scheint. Es ist jetzt mildwarm und windstill.
Die Zeit der Hirschlederhosen, der Dirndl und der Plastikeinweglederhosen, die so genannte „fünfte Jahreszeit“ ist ausgebrochen. Junge Münchnerinnen und Münchner, die eben noch das neue Album einer Popsängerin gehört und Markenklamotten getragen haben, sind in eine lodenröckige, wadlstrumpfige Schar verwandelt.
Ich warte auf Ubbelohde, meinen Literaturagenten. Er wollte mich eigentlich vom Bahnsteig abholen. Nun hat aber seine S-Bahn Verspätung und ich habe zu warten.
Ein Mann, der zwei Rollkoffer zieht bleibt an einem Tabakstand vor den bayrischen Souvenirs stehen. Eine Zugpflegerin, so nennt man die Aufräumhilfe bei der Bahn, schüttelt eine Saftpackung. „Wolfratshausen. Fünf Minuten“, ruft ein Mann einem Mädchen mit Strohhut und Banane zu. Das Mädchen nickt. Die Pendler pendeln. Eine alte Dame gibt einer anderen die Hand, dann gibt sie den geborgten Regenschirm zurück, greift nach ihrem Rollkoffer und winkt. Die Dame mit den zwei Regenschirmen winkt der Dame mit dem Rollkoffer.
Zwei Migrationshintergrundbuben unterhalten sich:
„Kommst du Schichtl?“ - „Nein, Mann.“ - „Eine Mass. Ein Fahrgeschäft. Dann wieder Mass. Dann noch mal Fahrgeschäft.“ - „Nee, Alter! Zwei Mass. Dann Fahrgeschäft. Dann eine Maß!“ - „Eine Mass. Ein Fahrgeschäft. Dann wieder Mass. Dann noch mal Fahrgeschäft.“ – „OK.“
Die beiden sind sich einig.
Ein Fremdenführer gibt mir ein Faltblatt in die Hand. Ich lese: „The Dachau, the Third Reich Tours and the Castle Tours are designed to complement each other. Together, they make a truly fascinating experience. Do both and get the reduced student price.
Join more than one tour and save money.
- the beer hall where Hitler met his destiny
- the very spot where the Nazi Party was launched
- Munich´s War Memorial
- the site of the Gestapo Headquarters
- site of the Beerhall Putsch
- the Nazi Party Headquarters and location of the “Munich Peace Agreement”
- the legendary fairytale castle
- picturesque trainride
- the most spectacular view of the Alps
- spectacular views of Hohenschwangau castele
- Marienbrücke
- waterfall gorge
- the bizarre story of Ludwig II
- queue jumping servile
We get you straight into the castle.”
„Germans are like Neuschwanstein“, höre ich von einem Weltenbummler hinter mir. „Or better like Garmisch. Actually like Garmisch.”
„Und ihr seid alle wie Newton Abbot, oder besser, wie Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch!“, sagt scherzend Ubbelohde, der sich unbemerkt genähert hat, bevor er mich überschwänglich begrüßt. Er trägt einen kuhfladenfarbenen Lodenmantel und crémefarbene Ziegenlederhandschuhe. Näher betrachtet ist sein lockiger Graukopf auf kurzer und beleibter Gestalt voller professoraler Würde. Ubbelohde erkundigt sich nach meiner Anreise und weist mich gleich auf die, von Rupprecht Geiger gestaltete Fassade des Münchner Hauptbahnhofs mit ihren Aluminiummosaiken von 1951 hin. Die ist mir noch nie aufgefallen. Dabei war ich schon einige Male in München. Ubbelohde ist bücherwissend, belesen und rhetorisch beschlagen. Man lernt immer dazu, wenn man mit ihm unterwegs ist. Man kommt allerdings wenig zu Wort. Ich habe das Manuskript meines vor kurzem fertig gestellten großen Krise-Romans dabei. Ubbelohde ist schon sehr gespannt, wie er mir versichert. Vorher sollten wir aber noch eine „Hopfenkaltschale“ auf der Wiesn zu uns nehmen. Die sei nicht weit von hier. Das ginge sich zeitlich gut aus.
Die U-Bahnstationen sind voller Betrunkener die sich oder ihre betrunkenen Freunde oder einfahrende U-Bahnen mit ihren i-Phones filmen. „Im feschen Dirndl von Realsales macht man auf der Wiesn Staat“, steht auf einem Plakat. Ein italienischer Mann stellt sich in Pose, hält die Hand hoch. Seine Begleiterin fotografiert ihn aus einem bestimmten Blickwinkel, so als wolle er den überdimensional großen Maßkrug auf der Plakatwand hinter ihm mit einer Hand stemmen. Wieder Papppizzaverpackungen auf dem Bahnsteig. Desperadoflaschen hübsch um den übergequollenen Mülleimer gruppiert. Wenn ein ganzes Abteil frei bleibt ist das verdächtig. Man muss erst auf die Sitze und den Boden schauen ob da nicht jemand die, seiner Wieseneuphorie gefolgte Ernüchterung als Gruß vom Oktoberfest hinterlassen hat.
Melodisch krächzende Karussellmusik begrüßt uns. In der Ferne sieht man den Bavariakoloss. Der Literaturagent weist mich auch auf dieses Wahrzeichen hin, und meint: „Ein Abguss des kleinen Fingers dieser Bronzedame, diente dem Männergesangsverein „Isarathen“ in Fürstenfeldbruck einst als Trinkhumpen.
Ein Mann blickt zur Bavaria und singt lautstark: „Hey baby, uh, ah. I wanna kno-ho-ho-ho-how if you be my girl?“ Es ist unklar wen er besingt, vielleicht die Bavaria. Er wankt nun in Richtung Bedürfnisanstalt, macht aber keine Anstalten, diese zu betreten sondern schlägt sein Wasser auf die schwarzen Gummistiefel des Abortmannes vor dem Eingang ab.
„Viele der als traditionell geltenden bayrischen Bräuche wurden zwischen 1840 und 1914 neu erfunden und sofort für den Fremdenverkehr vereinnahmt. Bauerntheater, Schuhplattln, Juchzgen und Durch-die-Finger-Pfeifen. Die gamslederne schwarze Kniehose auch.“
„Die gamslederne schwarze Kniehose“, denke ich, der Mann kann gut formulieren. Und er weiß viel. Ubbelohde doziert weiter: „Die Lederhosen hat uns weltweit Glück gebracht. Ich möchte mal sagen, die Lederhosen war schon –promotionsmäßig- ein großer Schachzug.“ Ich pflichte ihm bei.
Ein kleines Kind klammert sich an die Glatze seines Vater, der es auf den Schultern trägt. Der Vater verheddert sich mit seinem Bart in der rosa Zuckerwatte seiner Tochter als er davon abbeißen will. Eine Brezelverkäuferin hilft ihm die Zuckerwatte aus dem Bart zu klauben.
„Eine Brezelverkäuferin!“ ruft Ubbelohde. Er bleibt sinnierend stehen und raunt mir zu: „Diesen Berufsstand wähnte ich eigentlich für ausgestorben, ebenso wie die schönen Alt-Münchner Berufe: Trambahnritzenreinigungsdame, Scheffler, Radischneidemaschinenbesitzer, Maurerbrotzeitbringer. Eine leibhaftige Brezelverkäuferin!“ Er kann es nicht fassen. Dann erläutert er: „Das Oktoberfest war vor hundert Jahren schon ein Touristenmagnet. Da ist man aus der ganzen Welt für angereist. Das Oktoberfest von 1910, das war richtiggehend ein Event-Verbund: Passionsspiele Oberammergau, 100 Jahre Wiesn, Handwerkerkolonie, Uraufführung Mahlers Achter Sinfonie, Luftschifffahrten, Kinematographen und die Ausstellung Muhhamedanische Kunst, die Kandinsky beeinflusst hat.“ Ich solle mich nur einmal umsehen. Sehr barock sei das alles hier, ein Theater für die Massen. Das Oktoberfest sei eine einzige große Theaterinszenierung! Theater sei ja Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns. Theater sei nach Schlingensief der einzige Raum, in dem etwas wirklich und unwirklich zugleich sein kann. Aber das Oktoberfest sei in seinen, Ubbelohdes Augen, auch so ein Raum, in dem etwas wirklich und unwirklich zugleich sein könne. Meinecke und Schlingensief hätten früher übrigens hier in der Nähe, in der Bergmannstraße Nummer 48 gewohnt.
Der Literaturagent hat vorsorglich Plätze im Festzelt reservieren lassen. Wir zwängen uns am Kuscheltiergreifautomaten vorbei in das übervolle Zelt. Aus tausend bierseligen Mündern tönt das „Prosit der Gemütlichkeit“. Ich denke Ungemach, Ungemach, das wird erst einmal nichts mit der Roman-Manuskript-Besprechung. Ubbelohde sagt: „Das Burschenliederbuch von Georg Kunoth (1863-1927), einem Autor aus meiner Heimatstadt, ist 1901 erschienen. Darin war auch seine Komposition „Ein Prosit der Gemütlichkeit“, das gerade vielkehlig dargeboten wird.“ Ubbelohde stammt aus der „Freinschatbrehm“, der Freien Hansestadt Bremen. Man merkt es seinem Tonfall aber kaum noch an. Manchmal sagt er „Suupsack“ zu einem Trunkenbold. Der Lieraturagent raunt mir ins Ohr: „Die Bayern lachen wenig und wenn, dann nur in ihre, einen ganzen Liter Flüssigkeit fassenden Bierkrüge. Deswegen hat das Bier hier so eine hohe Schaumborte.“ Ein paar Minuten lassen wir ohne zu reden das Stimmengewirr der Menschen um uns herumsummen.
Der Mann uns gegenüber am Tisch, dem sein Bauchwulst über den Gürtel hängt, wischt seinen Nasenfluss mit der hohlen Hand fort und so ist mir der Anfang von Ubbelohdes Erläuterungen entgangen. Er klassifiziert scheinbar die Instrumentengruppe im Festzelt: „…Idiophone, also Instrumente, die durch eigene Schwingung einen Ton hervorbringen. Rassel, Gong, Becken. Reibidiophone und Stampfidiophone werden, wie ihr Name schon andeutet gerieben oder aufgestampft. Membranophone Töne werden per Hand oder Stock erzeugt (Trommeln).Tschulljung!“ Er hat den Mann mit dem Bauchwulst versehentlich im Gedränge auf dem Biertisch geschubst. Dieser lacht, dass ihm das Bier zu den Augen herauskommt und stampft mit seinem Landhausmodenschuh auf das Eichenimitat des Tisches und sagt etwas unverständliches auf Englisch zu uns. Das ist sicherlich auch dem Anlass geschuldet.
Der Agent macht ein Gesicht, als hätte er einen mit Senf bestrichenen Frosch verschluckt und raunt mir, mit dessen Schulenglisch es nicht weit her ist, zu, Englisch sprechen könne jeder, er müsse nur einen kindskopfgroßen Knödel in den Mund nehmen. Tausend biergerötete Gesichter. Lärmender Tumult.
Eine Isar-Athenerin mit tizianroten Haaren erscheint auf unserem Tisch, prostet uns zu, und brüllt Ubbelohde etwas ins Ohr. Dieser ruft: „Porrp bibitur“ und „Die Stimmung kann immer nur besser werden, bis man irgendwann unter dem Tisch absäuft.“ - „Oder das Ganze mündet in einer Massenorgie“, sagt die tizianrote Landhausmode-Frau augenklimpernd. Ubbelohde doziert: „Der nackte Mensch hat nun aber zu wenig konkave, konvexe Andockstellen zu wenig Ein- und Ausstülpungen als dass er sich auf ein wirkliches sexuelles Multitasking einlassen könnte. Folglich zerfällt eine sexuelle Konstruktion bei mehr als drei Personen wieder zugunsten kleinerer Einheiten.“ Seine Art zu shakern. Die Frau guckt komisch. Ich schweige dazu und denke mir im Stillen mancherlei. Ubbelohde brüllt plötzlich etwas von „dringend Tante Meier“. Die Frau schaut ihn vielsagend an. „Muss bieseln wie ein Kreuzotter!“, ruft er, weist mich an, für uns drei Maß zu bestellen und verschwindet in Richtung Toiletten. Die Musik fängt wieder an zu spielen und wir singen vielkehlig: „Hey baby, uh, ah. I wanna kno-ho-ho-ho-how if you be my girl?“. Und dann brüllt das Publikum: “Hipp! Hipp!”
Denkt Euch nur mein Erstaunen, Ubbelohde sei, wie er mir ein paar Tag später telefonisch berichtete bei seinem Toilettengang einer Neuseeländerin begegnet, die ihn vor Freude wild abgeknutscht habe. Sie war freudig erregt, weil sie im Prominentenzelt Matt Damon die Unterhose abgeluchst hatte. Der Freund der Neuseeländerin hob nun an, ihm, also Ubbelohde zu erklären, dass Matt Damon ein berühmter Hollywoodschauspieler sei. Sein Taschentelefon sei dem Literaturagenten wohl bei dem Versuch nachzugoogeln, abhanden gekommen. Er habe verzweifelt ein Taxi herbeigeschnippt. Als er am frühen Abend in einem Vorgarten in Ramersdorf - Perlach in der Nähe des ehemaligen Redaktionsbüros vom „Neuesten Modebarometer“ erwacht sei, hätte ein kirschtomatenrotes „Gemütlichkeits-Prosit“ auf dem rechten Schuh. Ja, zu diesem Zeitpunkt hätte er mein Manuskript wohl noch bei sich gehabt. Die ersten dreißig Seiten hätten ihm hervorragend gefallen. Manche Metaphern seien allerdings ein wenig abgegessen. Eine Vielzahl von Gedanken seien im Text, unterschiedlich in der Gedankenflucht, unterschiedlich in der Gedankentiefe, unterschiedlich in der Verdichtung der Aussagen, unterschiedlich in Form und Stil.
„Durch welche Sprechakte wird im Zeitalter von Jet und Web bei der Verbegrifflichung der Welt Subjektivität vermittelt?“, fragt er schulmeisterlich in die entstandene Sprechpause. Ich überlege.
- „Handy weg. Terminkalender weg. Roman-Manuskript futsch, aber eine signierte Herrenunterhose und ein kirschtomatenroter Fleck Erbrochenes auf dem Schuh!“, unterbricht er meine Gedanken.
Ich solle den Roman doch noch einmal umschreiben, die „Fliege-an-der-Wand-Perspektive“ störe ihn.
„Fliege an der Wand?“, frage ich ungläubig.
Diese teilnehmende Beobachtung hinter den Kulissen. Statt „Fliege-an-der-Wand“, wie man diese Forschungsmethode oder Erzählperspektive beschreiben würde, solle ich doch schreiben wie eine „streunende Katze“. Die sei neugierig und offen, aber nicht bedrohlich. Gelegentlich aufdringlich, aber leicht zu ignorieren.“
Ich solle mein Manuskript also noch einmal komplett umschreiben, und ihm dann erneut vorbeibringen. Am kommenden Wochenende sei „Italiener-Wochenende“ auf der Wiesn. Da hätte er Zeit, das müsse ich mir ansehen. Am Wochenende drauf sei er zu einer Ausstellung atelierfrischer Werke in Gütersloh eingeladen, dann habe er einer ländlich-revolutionären Erdbeerfeldbefreiung (Unkrautjäten) bei Berlin beizuwohnen und dann sei er zwei Monate weg. Vermutlich London.
„Unkrautjäten auf einer Erdbeerfarm? Ende September?“, denke ich.
Eine Fliege summt und landet auf meinem Hosenbein. Ich betrachte sie voller Erstaunen und lege den Telefonhörer weg
Heute von der Polizei erwischt.
ein Bericht von Lunzn Weinpeppln
Am Kotzhügel, rennt die Polizei vorbei an einer Halbnackerten
zu einer Gruppe Kiffer hin, mit dabei ein Kamerateam. Ich stelle mich ein und
sehe, beleuchtet von der Taschenlampe der Polizei die Nackerte und ihren Freund
ungeniert beim heftigen Liebesspiel. Weil es so schön angeleuchtet ist
fotografiere ich das Pärchen aus einer gewagten Perspektive und passe
nicht auf, denn eh ich mich versehen kann, hat mich ein Polizist im Griff und
lässt
nicht mehr los. Das Pärchen ist australisch, die Polizei verlangt den
Personalausweis, immer mit dem Hinweis sie seien nicht das Problem, nein Ich
sei es, ich habe
unter den Rock gefilmt. Das sagt er immer wieder, Ein Spanner auf frischer Tat ertappt. Ein Dritter fummelt
an meiner Kamera rum, kann aber die Bilder nicht finden. Ich möchte es
ihm zeigen, aber er gibt mir die Kamera nicht, ich könnte ja die Daten
löschen. Ja den hatten wir auch schon letztes Jahr sagt ein hinzugekommener älterer
Polizist. Die Polizei ist bei den Kiffern fündig, sie zeigen ein Päckchen
mit Drogen. Ich werde einer zweiten Gruppe übergeben, endlich lässt
mich der Polizist mit dem Hinweis ich habe unter den Rock gefilmt los, und übergibt mich der Obhut einer Polizistin. Der
Gruppenführer ist ein junger in den höheren Polizeidienst aufstrebender
Beamter. Die Polizistin nimmt meine Personalien auf. Es liegt nichts gegen
mich vor. Der Gruppenführer zeigt mir die Fotos in der Kamera, sagt das
sie grenzwertig seien, er müsste sie dem Paar zeigen und fragen ob sie
die Fotos gestatten. Natürlich gestatten sie es nicht. Der Polizist löscht
eines nach dem anderen. Gekonnt. Er sagt mir, er wisse es gibt Programme mit
denen kann man die gelöschten Fotos wieder herstellen... dann klärt
er mich auf von wegen Recht am Bild, daß ich mich auf sehr dünnem
Eis bewege…... daß Spanner fotografieren…... warum ich
die Fotos mache. Ich: münchen-kotzt.de. Er sagt zu einem andern Polizisten
du hast doch internet auf deinem handy, der verweigert sich mit kein Empfang
hier.
Da kommt das Mädchen herbei, fragt die Polizei ob " is he the man
who took the photos? " ich ahne was kommt, und halte meine Backe hin.
Die Polizei sagt mir dass ich gehen könne, der Australier birst in seinem Rausch, die Polizei sagt mir ich solle den Weg gehen, sie kümmert sich um den Australier .
Des einen Freund, des anderen Leid
von Miss Harmlos
Der Septemberhimmel für den sich das Tourismus-Amt das internationale
Patent sicherte, schüttelt geplusterte Wolken die sich wie Venus und Apollo
übereinander werfen. Ausdruckskräftige Leitbilder, als wollten sie die
menschliche Fleischessehnsucht zusätzlich mit den 500.000 Oktoberfest-
Grillhendln anheizen. Die Blaskapelle tuscht und posaunt als gälte es
mit seziermesserscharfen Takten auch den letzten Verlorenen in die
gnadenlose „Gemeinschaft der Bier-Gläubigen“ zu überführen. Die Lederhosen
der Wiesnbesucher sind gespannt. Die Frauen versuchen die Emanzipation
mit wechselhaften Oberstübchen und überragender Oberweite zu verbinden.
So manches Frauenzimmer, das während des Jahres als erloschener Vesuv
galt, beginnt in den zwei Septemberwochen zu brausen, als wollte sie ein
neues „Weibsteufel“-Konglomerat aus Salome, Elektra, Ibsens Neurotikerinnen
und einer gottverdammten Nico bilden. Ehrgeizige Killerbienen und –musen, die
ihr Gegenüber erblassen lassen wollen und mit einer geradezu flamboyanten
Energie den zechenden Herrn zu revolutionären Umgestaltungen animieren
könnten.
Aber nicht alle. Nein, nein, nicht jede schafft es mit ihrer Auslegware, die aus
dem Dirndl quillt als Lola Montez, mit irischen Hochstaplerführerschein den sie
anschmachtenden Lederhosenherrn zu einem liebeskranken König zu machen,
der sich sämtlichen politischen Lagern entgegenstellt. Der hat sicher am
nächsten Tag sowieso schon genug zu tun die angespannte Ehefrau zu
beruhigen, dass man halt dienstlich mit den Veterinären, wegen Überprüfung
auf Listerien in den Milchvorräten auf dem Oktoberfest im stickigen Zelt seine
Zeit absitzen musste. Unglaubhaft, da ja wohl in kaum einen Zelt ganze
Galonen von Milchschaum auf Espressotässchen ausgeschenkt werden.
Nun denn, wer im Zelt einen Platz in der intimen Geheimzelle einer Box auf
einer Bank findet und mit einem reizenden Gegenüber in einen liebestollen
Nahkampf sich hinein manövrieren kann, sei ein befriedigter Zeitgenosse.
Doch oft lösen ja auch die überfüllten Zelte Empörung aus, es folgen draußen
Tumulte, Hetzkampagnen, Prügeleien.
Die Zuckerwattemamsell, das pummelige Trutscherl aus Mühldorf, wurde auch
bereits miteinbezogen. Sie hopste grad am Eingang mit ihrem Zuckerwerk
herum und fauchte in ihrer pomadigen Art, dass man ihr gefälligst Platz machen
soll. Oh wäre sie doch lieber still und unsichtbar geblieben. Ihr stopfte man in
die adrette Hochsteckfrisur mit rosa Sternchengebilde, das aus dem Gewirk
wie Antennen ragte, Zuckerwatte, drückte ihr die Pampe geradezu lustvoll in
die Ohren, und um ihre Netzstrümpfe wickelten auch ein paar ganz unruhige
Geister Zuckerwattestreifen. Verständlicherweise schrie und zappelte sie
ausdauernd. Einen Angreifer biss sie das Ohrläppchen mit der Routine des
amerikanischen Preisboxers Mike Tysons im Kampf mit Evander Holyfield
ab. Endlich griff die Security dann doch ein. Die Herrschaften waren vorher
beschäftigt „minecraft“ auf ihren smartphones zu spielen. Man lief um die
Wette mit einer Spitzhacke herum, machte etwas kaputt, bis man es wieder
zusammenbaute. Verständlich, dass man die Spielzüge nicht unterbrechen
kann, da man sonst im Spiel wie im Treibsand verschwindet.
Um an dem Reigen der moralischen Freizügigkeit in den Zelten teilzuhaben,
gelten strenge Richtlinien, die es einzuhalten gilt, denn sonst wird der Einlass
verwehrt. Peinlich, gedisst muss man wie ein Hund vor der Metzgerei draußen
bleiben.
So passierte es dem Wolferl , als er mit den „Deisenhofener Stenzen“
beim „Bräuroserl“ saß. „El Presidente“ Manfred übernahm jährlich die
Tischreservierungsgeschäfte und führte ein strenges gewieftes Bier-Dirigat.
Sobald die Plattlinger Spitzbuam zum „Oans zwoa“ bliesen, musste jeder
pfeilschnell auf den Bänken stehen und in einer kleinen Coda nachnöhlen „Weil
wir die Deisenhofener Stenzen sind, die Welt gehört nur uns“.
Auf der Bühne war dem Maler Daniel Richter ein Atelier errichtet worden.
Der bequemte sich doch mal aus seiner Hafenstraße, dem Berliner Domizil
zu dem Oktoberfest, da er auch ein paar sündige Impulse für seine Arbeit
an der Akademie in Wien benötigte. Das erste Bild stand bereits auf der
Bühne. 3,20 Meter groß mit dem Titel: „Weil ihr alle mit euren Maßkrügen
ausseht wie alte beschissene Malerei“. Der Maler war durch die Hafenstraße
schon einige Ausschreitungen gewohnt, so dass ihn das Gejohle und
Geraunze der Bierseligen überhaupt nicht störte. Den Bürgergeifer ebbte er
mit den Villaloboschen Sound-Collagen im Kopfhörer ab. Wenn wieder eine
Bierleiche von den ambitionierten Johannitern abgeführt wurde, setzte er
seine Ledermaske auf, verbeugte sich neben dem Dirigenten und schwang
das Taktstöckchen über dem Kopf des Trompeters, als wolle er ihn gerade
köpfen. „Der gehört ja aufgehängt. Unverschämtheit, der macht sich ja nur
über unsere Tradition lustig. Ich werd mich beim Bürgermeister beschweren.
Rotzfrecher Trottel mit seiner Pinselei.“ Pech, der Bürgermeister lud den Maler
persönlich ein, da er sich für den nahen Wahlkampf mehr Wahlbeteiligung bei
den Youngstern wünschte und mit einer „endsgeilen“ Show auf Stimmen hoffte.
Die „Deisenhofener Stenzen“ waren schon ziemlich rundgesoffen, man merkte
gar nicht mehr, dass man den Nebenmenschen gar nicht mehr brauchte,
da man eh nur noch mit sich selbst sprach, das wichtigste war nur, nicht mit
plötzlichen Schweigen die Totenglocken der Gesellschaft zu schwingen.
Dann passierte dem Wolferl ein peinlicher, unauslöschlicher Fauxpas. Seiner
soliden Trinker-Konstitution nicht ganz vertrauend packte er sich in den
Trachtenjancker noch ein alkoholfreies, isotonisches Fitnessgetränk. Nach der
siebten Mass beugte er sich kurz unter den Tisch und wollte die ersten Tropfen
des kostbaren Getränks auskosten, bis ihn „el Presidente“ Manfred rotgesichtig
wie ein Truthahn hervorzog, die Getränkedose zu Daniel Richter hochwarf,
der sich hocherfreut daran machte mit der Dose auf das Instrument des
Paukisten miteinzuschlagen. Der versuchte ihn zwar als etwas Unangenehmes
wegzudrängen, da er ja in die Orchesterfamilie gar nicht reinpasste und sich
unziemlich einmischte. Aber es war wie bei Kafkas „Verwandlung“, der Paukist
wollte zwar schnell Abstand nehmen und auf Distanz gehen zu dem Typen, der
ja angeblich auch ein passabler Maler sein sollte, aber der Schmierfink war zu
straßengeprüft, dass er sich von dem schmalen Kampfangebot des Musikers
überwältigen ließ.
Wolferl, der sein Wiesn-Debüt mit den „Deisenhofener Stenzen“ erlebte,
musste auch schmerzlich erfahren, dass er trotz seiner Begeisterung für die
allgemeine Trinklaune und dem Hang zu einer dekadenten Orgie seinen
Sitzplatz durch diese Fitnessgetränkenachhilfeunpässlichkeit verlor. Barsch
zog ihn „El Presidente“, ein ehemaliger Hauptkommissar, der vom Dienst
wegen Frauengeschichten von Staatsregierungsmitarbeiterinnen suspendiert
wurde, an den Ohren wie eine Figur aus Ludwig Thoma-Geschichten zum
Festzeltausgang. „Der Lumpi kriegt Hausverbot in allen Zelten. Sagt das
weiter.“
Lumpi Wolferl hatte es vermasselt. Er schleppte sich hoch zum Bavariaring,
neben ihm entleerten sich schon die ein oder anderen Feiermüden, die Frauen
lagen in Agonie, ihr schlafender, auseinanderquellender Körper zeigte sich nur
noch in Resten als Sieger auf einem verlorenen Schlachtfeld. Im Laufe des
Tages werden sich auf der Wiese bei der Bavaria einige Menschen schlafend
rundgesoffen, halb entnüchtert nähern und in die finale Kapitulation gehen, nur
selten ahnend, dass das Erlebnis keine Erlösung, wohl aber die Auslöschung
des Geldbeutels bringt.
Wolferl hat nicht mehr die Kraft über den Zustand der Welt nachzudenken.
Wie an eine schöne Maid hingeschmiegt, breitet er seinen Arm unter seinem
Gesicht aus und legt sich schlafen. Während vom „Bräuroserl“ mit Tränen in
den Augen selig geschunkelt zu „Fein sein beinander bleiben“ wird, surrt in
Wolferls Kopf eine David Bowie-Melodie „As long as we’re together – the rest
can go to hell.“ Sollen sie doch alle zur Hölle fahren, seine Erlaubnis hatten
sie. Der Maler besprüht zwischenzeitlich die „Plattlinger Spitzbuam“ mit einer
lustigen Spritzpistole, die mit Acryl-Farben gefüllt ist. Dazu hämmert er mit
spitzer Zunge „ich bin ein apokalyptischer Reiter“. Der Bürgermeister reibt sich
im VIP-Bereich die Hände, sieht er doch schon die jubelnde Jugend, die sich
weiter spannende Erlebnisse mit dieser Musiker-Maler-Kombination wünschen.
Deeskalationsphase und Festvision
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